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"Er ist nicht"

für Mezzosopran, Chor und kleines Orchester nach einem Text von Jean Paul (2009/10)

Auftragswerk des Theaters und Philharmonischen Orchesters der Stadt Heidelberg als "Komponist für Heidelberg 09_10"

Orchesterbesetzung:

2(2.auch Picc) 3(3.=Eh) 0 2 - 0 3 0 0 - Pk, Schl(1), Hrf, Org, Str(5 4 3 2 1)

 

Dauer: 10 min

UA 16.05.2010, Peterskirche Heidelberg

Bettina Ranch, Mezzosopran

Bachchor Heidelberg

Philharmonisches Orchester Heidelberg, Ltg.: Christian Kabitz

Text:

 

Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. [...] und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. - Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!

 

[...]

 

Wenn der Jammervolle sich mit wundem Rücken in die Erde legt, um einem schönern Morgen voll Wahrheit, voll Tugend und Freude entgegenzuschlummern: so erwacht er im stürmischen Chaos, in der ewigen Mitternacht - und es kommt kein Morgen und keine heilende Hand und kein unendlicher Vater! - Sterblicher neben mir, wenn du noch lebest, so bete Ihn an: sonst hast du Ihn auf ewig verloren.

 

(aus: Jean Paul: "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei", 1. Blumenstück aus dem Roman "Siebenkäs", erschienen 1796/97)

 

 

Werkkommentar:

 

Darum gebeten, für das Konzert zum 125jährigen Jubiläum des Heidelberger Bachchores ein kurzes "Vorspiel" zu Bachs h-moll-Messe zu komponieren, fiel mir schon nach kurzem Nachdenken ein Text von Jean Paul ein, den ich seit langem sehr bewundere: die "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei."

 

Jean Paul beschäftigt sich in diesem Text mit der christlichen Gottesvorstellung und der Frage nach dem Leben im Jenseits. In einem ungeheuer bilderreichen Szenario läßt er Christus selbst auftreten und in seiner Rede an die Toten einen niederschmetternden Bericht erstatten: Es gibt keinen Gott, das Weltall ist leer, alles Wesen ist nur ein Trugbild, ein Regenbogen "ohne eine Sonne, die ihn schuf".

 

Die geradezu kosmische Bilderflut, die Jean Paul in seinem Text entfesselt, hat beim Lesen immer schon Musik in mir ausgelöst, und die Versuchung war groß, diesen Text als Vorlage für ein Stück zu nehmen. Ich stieß jedoch bald auf Schwierigkeiten: Erstens merkte ich, daß Jean Pauls Prosa eigentlich schon "Musik" ist, sie schien sich zunächst vehement gegen eine Vertonung zu wehren. Zweitens fiel es sehr schwer, nur einige wenige Zeilen aus dem gewaltig komplexen und dichten Text auswählen - es sollte ja schließlich ein kurzes Stück werden.

 

Ich denke, ich habe schließlich einen Weg gefunden, auf – hoffentlich – wirkungsvolle Weise ein kleines Fragezeichen vor Bachs gigantische h-moll-Messe zu setzen. Die Antwort darauf muß dann jedem Einzelnen selbst überlassen bleiben.

 

Der Philosoph Odo Marquard antwortete einmal auf die Frage, ob er an ein Leben nach dem Tod glaube: "Wenn es der liebe Gott mit mir gut hält, dann wird er mir vielleicht die Auferweckung im Jenseits ersparen - er wird mich schlafen lassen."

Anno Schreier, 2010

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